Juden im Raum Lichtenfels

Entwicklung der jüdischen Gemeinden

Juden am Obermain im 20. Jahrhundert

2,8 % der Bevölkerung. Das klingt nach einem sehr geringen Anteil, den die jüdische Bevölkerung um 1900 in Lichtenfels ausmachte: Es waren 111 Personen, die sich zur jüdischen Gemeinde zählten. Doch es wurden noch weniger: Bis zur Etablierung der NS-Diktatur 1933 sank der Wert auf 1% (69 Bürger). Einen ähnlichen Rückgang erfuhr der jüdische Bevölkerungsanteil in Burgkunstadt (von 150 auf 53 Personen) und Altenkunstadt (von 65 auf 29). Wie lässt sich diese Entwicklung erklären?

Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein war das Leben der jüdischen Familien noch von rechtlicher und gesellschaftlicher Diskriminierung geprägt. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden ihnen als Juden Rechtsgleichheit zugesprochen.

Auswanderung aus Deutschland

Die neue Niederlassungsfreiheit führte dazu, dass viele Kaufleute mit ihren Familien zunächst vom Obermain in größere Städte zogen und von dort, sobald es ihre finanziellen Mittel zuließen, auszuwandern. Besonders beliebt waren hierbei die Vereinigten Staaten von Amerika. Denn dort sahen sie die Möglichkeit eines Lebens ohne Diskriminierung und bessere berufliche Chancen.

Staatlicher Antisemitismus ab 1933

Die staatlichen Maßnahmen zur Entrechtung und Vertreibung der Juden aus dem öffentlichen Leben, der Terror ab 1933 zeigten Wirkung:

Von 69 Juden 1933 waren 1939 nur noch 17 in Lichtenfels übrig. Möglichst lange blieben naturgemäß die wohlhabenden Familien, die ihre Existenz nicht verlieren wollten.

Sie wohnten vor allem in der Innenstadt oder in der repräsentativen Bamberger Straße. In ihren Geschäftsräumen
handelten sie mit Bedarfsgütern sowie in Branchen, die sich aus dem Landhandel entwickelt hatten: Korbwaren, Viehhandel, Häute, Felle, Bekleidung und Stoffe sowie Immobiliengeschäfte waren typische Geschäftsfelder.

Vom Bürger zum Flüchtling: Auswanderer

Schikanen und Enteignung: Das NS-Regime

Bis zur Verhängung des Ausreiseverbots im Oktober 1941 flohen fast dreihunderttausend Menschen vor der zunehmenden Diskriminierung und Verfolgung. Vielen blieb dieser Weg aber verschlossen.

Obwohl die Vertreibung der Juden bis 1941 das offizielle Ziel des NS-Staates war, wurde die Auswanderung so schwer wie möglich gemacht. Ausreisewillige mussten sich oft einem langwierigen Prozess voller Schikanen unterziehen. Der 14-jährige Walter S.G. Kohn etwa musste eine Bescheinigung beibringen, dass er als Jude kein Mitglied der Hitler-Jugend war. Der Gang in die NSdAP-Geschäftsstelle war ein einziger Spießrutenlauf.

Die „Reichsfluchtsteuer“ zwang die meist ohnehin schon enteigneten Juden, den größten Teil ihres Vermögens an den Staat abzugeben. Zudem war es ihnen verboten, Privatbesitz von Wert mit ins Ausland zu nehmen, und die Freigrenze für Bargeld betrug gerade einmal 10 Reichsmark, etwa 2,50 Dollar.

Abgesehen davon, dass es den nun mittelosen Juden an finanziellen Mitteln fehlte, um sich im Ausland ein neues Leben aufzubauen, war für in die Einreise in viele Länder ein Vorzeigegeld nötig, das aufgrund der Enteignungen nur von ausländischen Bekannten gestellt werden konnte.

Boykott-Aktion der SA gegen jüdische Geschäfte ab 1. April 1933
(Foto: Bundesarchiv Bild 102-14469)

„Keiner will sie“: Hürden der Auswanderung

„Das Boot ist voll“

In der von der Weltwirtschaftskrise betroffenen Staatenwelt herrschte bezüglich der Flüchtlinge oft eine feindliche Stimmung: Man fürchtete Überfremdung, wirtschaftliche Überforderung und den Verlust von Arbeitsplätzen an die mittellosen Immigranten.

Im Juli 1938 wurde von den USA eine Konferenz im französischen Évian einberufen. Von den 32 teilnehmenden Staaten erklärten sich gerade einmal zwei bereit, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen. Die USA hielten an der Obergrenze von 27.350 Flüchtlingen pro Jahr fest und waren damit immer noch das Hauptaufnahmeland.

„Keiner will sie“, kommentierte höhnisch der „Völkische Beobachter“, die Parteizeitung der NSdAP.

Einreise in die USA

Hierfür war ein „Affidavit“ nötig, die Zusicherung eines Amerikaners, alle Kosten für den Flüchtling zu übernehmen. Zusätzlich sorgte die jährliche Obergrenze dafür, dass die Juden erst bis zu einem Jahr nach Erteilung des Visums tatsächlich in die USA einreisen durften. Viele nutzten Großbritannien als Zwischenstation (z.B. die Familien Marx) oder wählten den Umweg über Kuba (Familien Banemann) oder Shanghai, wo gegen hohe Bezahlung übergangsweise Asyl geboten wurde.

Die „St. Louis“ – „Schiff der Verdammten“

Das war auch der Plan der 937 Juden auf der „St. Louis“, die im Mai 1939 nach Kuba aufbrach. An Bord war Philipp Banemann, Leo Banemanns Bruder; dieser war gerade in Kuba gelandet. Kurz bevor die „St. Louis“ ankam, waren aber die Visabestimmungen geändert worden, sodass das Schiff keine Landeerlaubnis erhielt.

Die „St. Louis“ im Hafen von Havanna. Verwandte auf kleinen Booten sprechen den Passagieren an Bord Mut zu. Leo Banemann aus Burgkunstadt wird dabeigewesen sein, sein Bruder Philipp mit Familie sind an Bord. Quelle:gettyimages

Es begann eine Odyssee um den halben Globus, denn kein Land erklärt sich bereit, die „St. Louis“ und ihre Passagiere aufzunehmen. Kapitän Schröder musste im Juni nach Europa zurückkehren. Er weigerte sich, die jüdischen Flüchtlinge in seiner Obhut zurück ins nationalsozialistische Deutschland zu bringen. Schröder erwog sogar, sein Schiff vor Großbritannien auf Grund zu setzen, damit die Passagiere an Land gerettet würden. Endlich erhielt er aber von der belgischen Regierung eine Landeerlaubnis.

Phillip Banemann gelangte von dort nach Großbritannien und überlebte. Er entkam dem tragischen Schicksal der Passagiere, die in Belgien blieben. Denn ein Jahr später wurde das Land von der Deutschen Wehrmacht eingenommen und 250 der ehemaligen Passagiere fielen den Nationalsozialisten zu Opfer.

Sie waren ein Teil der etwa 156.000 ermordeten deutschen Juden, denen die Ausreise verwehrt blieb.